Fast eine Weihnachtsgeschichte...
Fast eine Weihnachtsgeschichte…
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Fast eine Weihnachtsgeschichte…

Als ich die letzte Zeile gelesen, das Buch zugeschlagen und mir eine weitere Träne aus den Augenwinkeln gewischt hatte, fand ich, dass dieser Roman, der in einem Sommer irgendwo in Deutschland spielt, auch eine Art Weihnachtsgeschichte ist: mit Tiefgang und Humor, traurig, zwischendurch heiter und leicht und am Ende hoffnungsvoll.

Die 14jährige Billie lebt mit ihrer nicht besonders alltagstauglichen, aber im Improvisieren umso geschickteren Mutter Marika in einer heruntergekommenen Sozialsiedlung. In der Ferne rauscht die Autobahn. Manchmal stellen sich die beiden vor, es sei das Meer…
Billies Mutter ist Meisterin darin, ihre Tochter vor dem Armutsgefühl zu bewahren: Beim Tiefkühl-Pizza-Essen auf dem zerschlissenen Sofa stellen sie sich vor, in einer Pizzeria irgendwo im Süden zu sitzen (in der Ferne das Meeresrauschen). Im Sommer stellen sie Liegestühle auf den Laubengang vor ihre Zweizimmerwohnung, werfen zusammen mit den Nachbarn den Grill an und tun so, als sässen sie am Strand (in der Ferne das Meeresrauschen). Billie ist sich sehr wohl bewusst, dass dies alles nur Täuschungsmanöver ihrer Mutter sind, um sie zu schützen. Billie selber hat sich ebenfalls solche Schutzmechanismen angewöhnt. Sie weiss, was sie in der Schule sagen muss, damit nicht auffällt, dass sie kein Geld für Ausflüge hat und auch gegenüber ihrer besten Freundin – aus gutem Hause – kann sie sich erklären.

Billie ist intelligent, feinfühlig und hat eine gesunde Resilienz entwickelt. Trotzdem wird ihr immer wieder schmerzlich bewusst, in welch schwierige Lage sie ihre liebenswürdige, aber chaotische Mutter immer wieder bringt. Es sind die kleinen Reaktionen ihrer Umgebung, die weh tun, nicht die Armut an sich. Auch, dass sie nicht weiss, wer ihr Vater ist, lässt ihr keine Ruhe. Ihre Mutter, die ihr sonst sehr nahe steht und mit der sie über beinahe alles reden kann, hüllt sich bei diesem Thema in verbittertes Schweigen.

Als sich manches zum Guten zu wenden scheint und die ersten Ferien am Meer (dem echten!) in Sicht sind, überstürzen sich die Ereignisse. Unerwartet kommt Billies kranke Grossmutter aus Ungarn angereist und bewohnt ab sofort ihr geliebtes Zimmer. Marika leidet ebenso unter der dominanten Mutter, hilft ihr aber pflichtbewusst, medizinische Hilfe für ihr Leiden zu finden. Die heiss ersehnten Ferien bleiben – einmal mehr – ein Traum. In den folgenden Tagen und Wochen passiert viel Einschneidendes, was hier nicht verraten werden soll. Schliesslich macht sich Billie alleine auf in den Norden, auf die Suche nach ihrem Vater, auf die Suche nach sich selbst. Und zwischendurch auch einfach auf die Suche nach einem Ort zum Übernachten.

Das Erstlingswerk der deutschen Autorin Elena Fischer hat mich voll erwischt! Ihr sorgfältiger, empathischer, oft auch humorvoller Schreibstil hat es mir angetan. Wie sie ihre Protagonisten, insbesondere Billie, durch eine schwierige Zeit begleitet, ebenso. Auch, wie sie das Thema Armut angeht – realitätsnah, aber nicht trostlos und ihren literarischen Figuren die Würde lassend – zeugt von tiefem Einfühlungsvermögen und grossem Können.

Ein Rezensent meinte zu diesem Roman, dass er ein „kleines Wunder“ sei – wenn das keine Weihnachtsgeschichte ist!


Buchtipp von Brigit Weiss | Blogteam Mediathek


Angaben zum Buch:
Elena Fischer: Paradise Garden
Zürich : Diogenenes, 2023
345 Seiten
>>> Der Titel steht in der GIBZ Mediathek im Belletristikbereich unter FISC – falls er nicht ausgeliehen ist…

5 Kommentare deaktiviert für Fast eine Weihnachtsgeschichte… 351 13 Dezember, 2023 INFORMATIV Dezember 13, 2023

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