Reisen ist in diesen Pandemie-Zeiten unmöglich geworden und Flugreisen sind aus ökologischen Gründen eh nicht mehr besonders angesagt. Warum sich also nicht auf eine «Sofareise» begeben und – vertieft in einen Reisebericht – fremde Welten entdecken?
Es gibt Bücher, die Jahre und Generationen überdauern und auf wundersame Weise immer aktuell und lesenswert bleiben. «Die Erfahrung der Welt» des Westschweizer Reiseschriftstellers, Fotografen und Journalisten Nicolas Bouvier ist ein solches Werk. 1963 in Genf erstmals publiziert, erschien es kürzlich in der fünften Taschenbuchausgabe.
Die Reise, die Bouvier zusammen mit dem Maler Thierry Vernet 1953/54 in einem Fiat Topolino von Genf aus unternahm, führte sie durch das ehemalige Jugoslawien, in die Türkei, nach Persien – heute Iran – und ins damals legendäre Afghanistan. Knapp 9000 Kilometer – ohne Handy, Internet oder GPS, mit oft ungenauen Karten, Wegweisern in fremden Schriften oder sich vor Ort nach dem Weg und den Strassenverhältnissen erkundigend – heute kaum mehr vorstellbar!
Die Reiseplanung der befreundeten, damals erst 23- respektive 26-jährigen Männer war vage, ebenso die finanziellen Möglichkeiten: «Wir hatten zwei freie Jahre vor uns und Geld für vier Monate». Weniger prosaisch ausgedrückt, bedeutete dies, dass sie sich ständig nach einer Arbeit und einem Verdienst umsehen mussten. Mit dem Verkauf von Zeichnungen und dem Verfassen von Zeitungsartikeln kamen sie oft eher schlecht als recht über die Runden.
Neben flottem Vorwärtskommen, erlebten sie auch erzwungene Reiseunterbrüche, sei es, weil ihr Topolino defekt war oder aus klimatischen Gründen. So sassen sie von Oktober 1953 bis in den Frühling hinein im iranischen Täbris fest, wo zeitweise kräftezerrende Minustemperaturen herrschten und sie kaum Geld für das Nötigste hatten.
Dank der bildhaften Sprache und dem reichen Vokabular wähnt man sich mittendrin im Geschehen. Bouvier beschreibt Szenen oft mit ungewöhnlichen, aus der Situation heraus jedoch überaus treffenden Vergleichen, wie z.B.: «…sobald er begriff, in welch wohltätigen Stromkreis er geraten war».
Auch schwierige und herausfordernde Momente analysiert er nüchtern, mit dem ihm eigenen Humor: «Niemals erscheint die Arbeit verlockender, als wenn man sich gerade daranmacht. Deshalb liessen wir sie liegen und zogen aus, um die Stadt zu entdecken.»
Nicht zuletzt erstaunt das immense Wissen des jungen Autors und seine Fähigkeit, das Erlebte in einen übergeordneten zeitgeschichtlichen, völkerkundlichen oder gesellschaftlichen Kontext zu stellen.
Bouviers Reiseerinnerungen zeigen uns einmal mehr, dass die Welt damals weder besser noch gerechter, aber doch sehr anders war. Dass das Leben – vielerorts stärker als heute – von verbindenden Traditionen, einschränkenden Zwängen und unterdrückenden politischen Systemen bestimmt wurde.
Gleichzeitig ist die gemächliche Art des unvoreingenommenen Unterwegsseins, wie die beiden Westschweizer es waren, aktueller denn je. Heute würde man es wohl „slow traveling“ nennen.
«Die magische Kraft einer Reise liegt darin, dass sie das Leben reinigt, bevor man es einrichtet und ausschmückt»
(Nicolas Bouvier)
Brigit Weiss, GIBZ Mediathek
Der Titel ist in der GIBZ Mediathek vorhanden und steht bei den Reiseberichten im Regal 910 – wenn er nicht ausgeliehen ist 😉
librarian@work 🙂
Nicolas Bouvier
Die Erfahrung der Welt
5. Auflage
Basel : Lenos Verlag, 2019
440 Seiten
ISBN 978 3 85787 786 5